Das wichtigste Buch, das ich nach meiner "Sommer-Serie" gelesen habe, stammt von Samira El Ouassil und Friedemann Karig und hat den selbsterklärenden Titel "Erzählende Affen" und den ebenso klaren Untertitel "Mythen, Lügen, Utopien; Wie Geschichten unser Leben bestimmen"; (Ullstein, 2021). Wenn Du etwas näheres in 13 Minuten über die Autorin erfahren möchtest, empfehle ich Ihre Aussage beim Kölner Treff vor einigen Monaten.
Es ist wieder so ein bahnbrechendes Buch, wie das letzte von mir hier zitierte (über die Gefühle der Neandertaler). Obwohl uns das Buch noch Mal traditionell in eine Reihe mit Affen (im Untersinn: mit Menschenaffen) stellt, ist dieser Titel auch hier als keine Beleidigung zu deuten; es könnte auch ruhig "Erzählende Tiere" heißen. Es geht in diesem faszinierenden Buch primär um die Narrative, Erzählungen und Geschichten, die wir uns seit den Anfängen der Menschheit immer wieder erzählen. Und um ihre Macht, unser gemeinsames (aber auch individuelles) Leben zu bestimmen, zu orientieren und zu verändern. Auch wenn viele von diesen Geschichten nicht nur Utopien, sondern auch Mythen oder brutale und bewusste Lügen sind.
Das Wichtigste für mich persönlich fand ich aber erst auf der letzten Seite dieses Buches. Deswegen zitiere sie sie auch hier Wort für Wort.
"Unsere These war und ist, dass Narrative, verpackt in mächtige Kulturprodukte, politische Programme oder platte Popsongs, heute die größte transformative Kraft besitzen. Und das nicht obwohl, sondern weil wir sie selten als solche wahrnehmen, sie aber umso lustvoller weitergeben. Wir haben aber auch erkannt: Einige der stärksten (und verlogensten) Narrative unserer Zeit sind Anti-Heldenreisen. Sie versprechen den Menschen kein Abenteuer, keine Reise, keine Transformation. Ihre ebenso fatale wie verführerische Botschaft lautet: Alles kann so bleiben, wie es ist. Wir müssen uns überhaupt nicht ändern.
Wenn Sie sich nun ein Narrativ selbst stricken könnten, wie sähe es aus? Wären Sie lieber Held oder Mentor? Wie sehr sind Sie bereit, alles aufs Spiel zu setzen? Wo sind Sie Antagonist, wollen es aber gar nicht mehr sein? Welche Geschichte von uns selbst und der Menschheit würden wir gerne erzählen? Vielleicht ist der Moment gekommen, in dem wir, wie im Film Matrix, zwischen der blauen und der roten Pille wählen müssen (bei aller Vorsicht vor diesem oft missbrauchten Motiv): Wollen wir aufwachen oder weiter schlafen?
Wenn wir am Ende dieses Buches einen Ratschlag haben, dann jenen, den man in Sicherheitstrainings für Krisensituationen am häufigsten hört. Wenn wir einer Gefahr entgegensehen, ist es ratsam, zu handeln, bevor es brenzlig wird. Also: Seien Sie keine Heldin. Seien Sie kein Held. Bleiben Sie ein erzählender Affe. Erzählen Sie sich und Ihren Lieben die Geschichte einer guten Zukunft. Lassen Sie diese Geschichte mit einer Wette auf ein Happy End beginnen. Fragen Sie sich ehrlich, wo Sie Protagonistin, wo Antagonistin sind. Erfinden Sie Utopien, fantasieren Sie paradiesische Zustände, seien Sie mutig. Verbünden Sie sich dazu mit anderen, die bisher nur zu träumen wagen.
Vor allem aber: Warten Sie nicht auf den Auslöser, bevor Sie handeln. Beginnen Sie Ihre Reise heute."
Diesem herzlichen Appell bin ich schon früher gefolgt, wobei ich über die Möglichkeit "paradiesische Zustände" auf der Erde in naher Zukunft zu schaffen, nicht nur "fantasierte", sondern sie auch wissenschaftlich begründete. Ich habe an die Adresse von Samira El Ouasill eine entsprechende Nachricht geschickt, mit einem Link zu meinem Buch "Ich, Du, und Wir Alle; Woher kommen wir, und wie können wir eine Familiäre Demokratie aufbauen". Ob sie die erste sein wird, die diese Utopie auch als die eigene erkennen wird, mal sehen.