Z4. Lea Ypi, “Frei”

Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

In den Sommermonaten 2022 habe ich meine Online-Aktivitäten sehr eingeschränkt. Dafür habe ich mehrere neue Bücher gelesen. Einige davon so wertvoll, dass ich über sie hier kurz berichten möchte, um Euch dazu zu bewegen, sie auch zu lesen. Das erste fantastische Buch dieser meiner "Serie" stammt von Lea Ypi, die ich über die "Sternstunde Philosophie" mit Begeisterung kennengelernt habe.

In der Einleitung zu dem 3Sat-Beitrag (vom 08.05.2022) lesen wir:

"Lea Ypi – Das Geheimnis der Freiheit

Die albanische Philosophin Lea Ypi glaubte, im freisten Staat der Erde aufzuwachsen. Ein Irrtum. Jedes Wort wurde überwacht. Nicht einmal ihre Eltern sagten die Wahrheit. Lea Ypi verlebte ihre gesamte Jugend im letzten stalinistischen Land Europas. Heute lehrt die albanische Philosophin politische Theorie an der renommierten 'London School of Economics and Political Science'. Was heißt es für sie, frei zu sein – frei zu leben? Welche mentalen, moralischen und politischen Bedingungen müssen dafür gegeben sein?

In ihrem beeindruckenden literarischen Memoire 'Frei – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte' beschreibt Lea Ypi den Alltag im Albanien des Diktators Enver Hodscha, den schockartigen Sturz des Systems im Jahre 1990, am Ende des Kalten Krieges, sowie die Auflösung jeder politischen Ordnung im Zeichen einer neuen, mutmaßlich totalen Freiheit.

Im Gespräch mit Wolfram Eilenberger legt die Kant-Spezialistin Lea Ypi ihr Verständnis einer wirklich mündigen, erwachsenen Freiheit dar – und damit eine politische Vision, die in Ost- wie Westeuropa bisher auf Verwirklichung wartet."

Auf die Frage: "Ist die Freiheit nur im Bezug auf andere Menschen denkbar?" antwortet Lea Ypi:

"Ja, ich denke schon. Denn was wir tun ist nie ohne Konsequenzen auf andere Menschen. Wir sind für uns selber verantwortlich, aber wir sind auch mitverantwortlich für die Gestaltung der Welt in der die anderen Menschen leben.

...

Die Idee als Einzelner mit allem zu brechen mag ideologisch bestehend sein. Gerade in unserer Gesellschaft ist sie aber sehr problematisch, weil sie befeuert wird von der herrschenden Vorstellung, dass der Einzelne selbstbestimmt und frei ist, und alle Möglichkeiten hat, diese Freiheit auch auszuleben. In Krisenzeiten, wie wir sie gerade erleben, ist sozial verantwortliches Handeln entscheidend, weil Alles was wir als Einzelne tun, bedeutsame Auswirkungen auf andere Menschen hat. So sehen wir, wie brüchig dieses Narrativ ist, woran wir zu glauben gelernt haben.

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Man muss tief graben, um den Schein zu entlarven.

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(wonach die) Freiheit immer auch die Möglichkeit einschließen muss, sie zu realisieren."

Auf die Frage um ihren Versuch, die Kantsche Sicht auf die individuelle Freiheit mit der marxistischen Sicht auf soziale Freiheit zu verbinden, antwortet sie:

"Bestimmte philosophische oder moralische Bekenntnisse verdienen es, im ihren Kern neu bewertet und überdacht zu werden. An der sozialistischen Tradition gefehlt mir das Bekenntnis zu sozialen Verantwortung und zu Idee, dass Freiheit sich in der Gesellschaft und gemeinsam mit den Anderen erfüllt. Das ist einzigartig und hebt sich von der liberalen Tradition ab, wo sich alles um das Individuum und seine Auffassung von Freiheit dreht.

...

Es ist wichtig die Demokratie wieder zu beleben, und sie repräsentativ zu gestalten. Dazu gehört Transparenz auf transnationaler Ebene, und eine bessere Anbindung dieser transnationaler Anliegen unter technokratischen Eliten mit den Anliegen der Bürger. Dafür brauchen wir intermediär die politische Parteien oder soziale Bewegungen, die in der Lage und willend sind, den status quo grundsätzlich in Frage zu stellen, und radikale Alternativen anzubieten."

Lea Ypi spricht mir direkt von meiner physikalisch-philosophischen Seele. Wirklich bemerkenswert.

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