Z2. Markus Gabriel, “Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten”

Hier unten siehst Du Auszüge aus dem Buch von Markus Gabriel, “Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten; Universale Werte für das 21. Jahrhundert“, (Ullstein Buchverlage, 2020).

(Meinen Kommentar habe ich grün gefärbt.)

Drittes Kapitel: Soziale Identität

Menschen sind immer Teil verschiedener Gruppen: Wir sind zum Beispiel Familienmitglieder, Arbeitnehmer, Staatsbürger, Flüchtlinge, Lobbyisten, Weintrinker, Nachbarn oder Spaziergänger. Die Liste unserer Gruppenzugehörigkeiten ist ziemlich lang, und keiner von uns überschaut wirklich all seine sozialen Vernetzungen. Die Gesellschaft als das gesamte Gewebe sozioökonomischer Einzelprozesse, die Menschen in Gruppen sortieren und an deren Gestaltung Menschen wiederum bewusst mitwirken, ist zu komplex, als dass jemand sie insgesamt überblicken könnte. Zwar steuern einige Teilsysteme andere Teilsysteme (zum Beispiel die Politik die Wirtschaft und die Wirtschaft umgekehrt die Politik), aber niemand steuert alles, weil niemand überhaupt wissen kann, wie dies möglich wäre.“

An diesem Beispiel des Denkens eines noch relativ jungen Philosophen können wir das wichtigste Problem in unserer modernen Betrachtung unserer Identität bereits gut erkennen. In der Gabriels Auflistung der verschiedenen Gruppen, in welcher Menschen immer ein Teil sind, ist alles richtig bis auf die Familienmitgliedschaft. Die Zugehörigkeit zu allen anderen Gruppen ist entweder freiwillig oder (wie zum Beispiel im Falle der Auswahl eines Kindergartens oder einer Religion) durch die Eltern des Menschen entschieden. Die Zugehörigkeit zu einer Familie aber eben nicht. Diese Zugehörigkeit regelt (oder steuert) die Natur. (Es gibt zwar einige Hinweise, dass das Geschlecht des Neugeborenen durch die Wahl der Zeit der Befruchtung entlang des monatlichen Zyklus beeinflusst werden kann, aber andere Merkmale des Kindes sind normalerweise kaum von den Eltern „wählbar“.)

Bei der Suche nach der wahren Identität eines jeden Menschen muss man also seine Familienzugehörigkeit, anders als die Zugehörigkeit zu allen anderen Gruppen während seines Lebens, als ein natürliches Merkmal erkennen und akzeptieren, und zwar lebenslänglich. Viele Menschen der Gegenwart denken, sie können diese Zugehörigkeit kündigen, wenn sie mit der eigenen Familie nicht zufrieden sind. Es ist aber nur eine Illusion. Egoistisch gesehen, kann man auch ohne eigene Familie leben. Und auch sterben. Aus der evolutionären Sicht jedoch, kann man die familiären Beziehungen mit einer Zugehörigkeit zu keiner anderen Gruppe ersetzen. Deswegen plädiere ich in meinem neusten Buch („Ich, Du, und Wir Alle“) für eine Neustrukturierung unserer Weltgemeinschaft, für eine Familiäre Demokratie, die auf der natürlichen demographischen Hierarchie der menschlichen Gruppen aufgebaut sein könnte.

Markus Gabriel schreib weiter: „Ein Stereotyp ist eine die Wirklichkeit verzerrende Handlungsbeschreibung, mittels derer man versucht, die Handlungsweise eines Menschen unter Bezugnahme auf seine Gruppenzugehörigkeit zu erklären. … Stereotype sind gefährlich, weil sie leicht dazu verführen, die Handlungen anderer Menschen sowie die eigenen Handlungen moralisch falsch einzustufen und deswegen im Gegenzug falsch zu reagieren.“ Das ist wahr, und daran muss man immer, auch beim Philosophieren, denken.

Dann beschäftigt sich Markus Gabriel weiter mit der Frage der Identität eines Menschen: „Um das irreführende Identitätsdenken zu überwinden, müssen wir mit der Hauptfrage der Identität beginnen: Was ist eigentlich Identität? Diese Frage führt in philosophische Untiefen, da sie in verschiedenen Varianten die gesamte Philosophiegeschichte seit mehr als zweitausendfünfhundert Jahren bestimmt. … Um Klarheit in dieses Gewirr zu bringen, kann man zunächst vier Formen von Identität unterscheiden.
1. Ontologische Identität
Was bedeutet es eigentlich, dass jeder von uns jemand ist? Wieso bin ich ich und nicht jemand anderes? …
2. Metaphysische Identität
Mit welchem real existierenden Gegenstand, der sich in der Wirklichkeit befindet, bin ich als Mensch eigentlich identisch? Bin ich ein raffiniertes, sprachfähiges Tier? Eine unsterbliche Seele, die in einen Menschenleib geraten ist? Ein Muster neuronaler Aktivität? Ein Gehirn, das in einem Körper als Schaltzentrale steckt? Ein Traum? Ein Gedanke im Geist Gottes? Oder irgendetwas ganz anderes? … Faktisch sind diese metaphysischen Fragen nicht geklärt, was sie keineswegs unwichtig macht, da von ihnen nun einmal der Sinn des Lebens abhängt.
3. Personale Identität
Bin ich zeit meines Lebens derselbe? Bin ich derselbe wie vor dreißig Jahren? Werde ich derselbe sein, wenn ich sterbe, oder stirbt dann jemand anderes, zu dem ich geworden bin, der in meiner Haut steckt? …
4. Soziale Identität
Was bedeutet es für mich, dass ich Vater, Autor dieser Zeilen, Hochschullehrer, Deutscher, Rheinländer, Weintrinker, Nachbar, Ehemann, Philosoph, Direktor einer Forschungseinrichtung usw. bin? Jede dieser Rollen ist mit Rechten und Pflichten verbunden, die teilweise dadurch festgelegt werden, dass sie sozialwissenschaftlich untersucht wurden und werden und mit Institutionen des demokratischen Rechtsstaats vernetzt sind, der Spielräume bestimmt, innerhalb derer man Vater, Autor, Deutscher, Nachbar, Weintrinker usw. sein kann.“

Fehlt es Dir (der/die diese Zeilen liest) nicht in dieser Auflistung, so wie es mir fehlt, etwas sehr Wichtiges? In allen vier Formen von Identität fehlt mir die Anbindung des Menschen, der sich alle diese Fragen stellt, an seine eigene Familie.
Ad 1. „Was bedeutet, dass der Mensch überhaupt jemand ist?“ Es ist für mich eindeutig: seine Eltern, seine Familie haben ihn (im Idealfall) zum Mitleben eingeladen und akzeptiert.
Ad 2. „Oder irgendetwas ganz anderes?“ Ja, genau, etwas (fast) ganz anderes. Kein „Gegenstand“ sondern eine Struktur. Und zwar eine hierarchisch organisierte Struktur der materiell-geistigen Einheiten (die ich Materie-Geist Quanten nenne). Ich schreibe hier – (fast) ganz anderes – weil auch ich dazu neige ein unsterbliches Kreatives Potential, eine unsterbliche Seele, als unseren Ursprung zu betrachten (s. Beitrag UP11: „Unsere Seelen sind unser Ursprung“). Über einen familiären Verbund der „verwandten Seelen“ ist wahrscheinlich noch keine große Forschung betrieben; es wäre aber die richtige Zeit dafür.
Ad 3. „Bin ich zeit meines Lebens derselbe?“ Nein, bin ich nicht. Mit jedem verstorbenen Mitglied meiner Familie ist auch ein Teil meines Kreativen Potentials (meiner Seele, wenn man so will) zurück in den Pool der Universalen Kreativität der Menschheit zurückgekehrt. Und andersrum, mit jedem neu geborenen Mitglied der Familie ist ein zusätzliches Teil dieses globalen Potentials auch in meiner „Persönlichkeit“ erschienen.
Ad 4. „ Jede dieser Rollen ist mit Rechten und Pflichten verbunden“. Das ist wahr. Und diese Verbundenheit eben macht den größten Unterschied. Die Pflichten der eigenen Familie gegenüber, wenn sie ernst genommen werden und über Generationen gepflegt werden, führen zu einem der größten Paradoxen unserer Gegenwart. Die kriminellen Clans sind oft jedem Staat weit überlegen, weil ihre familiäre Verbundenheit durch keine staatlichen Strafen zu brechen zu sein scheint. Wäre es nicht an der Zeit die gleiche starke Verbundenheit auch bei friedlichen, gemeinnützigen, wohltätigen Aktivitäten der Menschen zu unterstützen? Der Staat muss im Dienste der Familien an allen Stufen des demographischen Spektrums stehen, und nicht umgekehrt. Genau das ist der Zweck meiner Tätigkeit hier. Ihre Vollendung erlebe ich wahrscheinlich nicht mehr. Aber die Richtung der Umstrukturierung unserer Weltgemeinschaft versuche ich Euch zu zeigen. Schaut also genau hin.

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